Das Bundesgericht revidiert die Praxis des «wirtschaftlichen Neubaus»

Das Bundesgericht hebt die langjährige Praxis des «wirtschaftlichen Neubaus» auf. Den Steuerbehörden ist es ab sofort nicht mehr gestattet, eine wirtschaftliche Gesamtbetrachtung vorzunehmen und damit die Kosten für umfassende Arbeiten an einer Liegenschaft gesamthaft als wertvermehrende Anlagekosten zu qualifizieren.

Das Bundesgericht revidiert die Praxis des «wirtschaftlichen Neubaus»

Unterhaltskosten für Liegenschaften im Privatvermögen können gemäss Art. 32 Abs. 2 DBG (betreffend direkte Bundessteuern) sowie Art. 9 Abs. 3 StHG (betreffend kantonale Steuern) vom steuerbaren Einkommen abgezogen werden, sofern sie die Liegenschaft erhalten, instand stellen oder ersetzen und sich damit als werterhaltend qualifizieren. Nicht vom steuerbaren Einkommen absetzbar sind gemäss Art. 34 lit. d DBG hingegen wertvermehrende Aufwendungen (Anlagekosten), da sie den Wert der Liegenschaft steigern. Wertvermehrende Kosten können erst im Rahmen eines Verkaufs der Liegenschaft bei der kantonalen Grundstückgewinnsteuer als Anlagekosten berücksichtigt werden. Die Abgrenzung zwischen werterhaltenden und wertvermehrenden Kosten hat gemäss Bundesgericht nach objektiv-technischen Kriterien aufgrund einer Einzelbetrachtung zu erfolgen. Alle Aufwendungen, welche ein Grundstück in einen besseren Zustand versetzen, haben wertvermehrenden Charakter. Massgebend ist dabei aufgrund einer funktionalen Betrachtungsweise, ob das Grundstück durch die Massnahme eine qualitative Verbesserung und damit eine Wertsteigerung erfahren hat (Urteile 2C_582/2021 vom 29. November 2021 E. 2.1; 2C_450/2020 vom 15. September 2020 E. 4.1). 

Die bisherige Praxis «des wirtschaftlichen Neubaus»

Bisher war es den Steuerbehörden gestattet, bei umfassenden Arbeiten an einer bestehenden Liegenschaft die Praxis des «wirtschaftlichen Neubaus» anzuwenden. Indizien für das Vorliegen eines «wirtschaftlichen Neubaus» waren gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung eine Totalsanierung, die Aushöhlung des Gebäudes, der Ersatz der Gebäudehülle, die Neugestaltung der Innenraumeinteilung, die Nutzungsänderung des Gebäudes oder wenn die Investitionskosten den Wert der Liegenschaft übersteigen. In diesen Fällen waren die Arbeiten an einer bestehenden Liegenschaft gemäss Bundesgericht so umfassend, dass sie wirtschaftlich gesehen einem Neubau gleichkamen (BGer 2C_558/2016; BGer 2C_242/2020). Mit der Praxis des «wirtschaftlichen Neubaus» sollten wirtschaftlich gleich gelagerte Fälle auch steuerlich gleich behandelt werden können. Dazu nahmen die Steuerbehörden eine wirtschaftliche Gesamtbetrachtung der Kosten vor und qualifizierten die Arbeiten steuerlich nicht mehr – wie gesetzlich vorgesehen – einzeln anhand von objektiv-technischen Kriterien als werterhaltende Unterhaltskosten oder wertvermehrende Anlagekosten, sondern gesamthaft als wertvermehrende Anlagekosten. Entsprechend führte die Praxis dazu, dass auch einzelne werterhaltende Aufwendungen nicht mehr vom steuerbaren Einkommen abgezogen werden konnten, wenn die Steuerbehörde von einem «wirtschaftlichen Neubau» ausging. Selbst energiesparende Massnahmen, welche abzugsfähig wären, konnten unter Anwendung der Praxis des «wirtschaftlichen Neubaus» unter Umständen nicht mehr in Abzug gebracht werden. Die Praxis des «wirtschaftlichen Neubaus» wurde durch das Bundesgericht mehrfach bestätigt (Urteil des Bundesgerichts 2C_233/2011 vom 28. Juli 2022 E. 3.2; Urteil des Bundesgerichts 2C_744/2021 vom 21. September 2021 E. 2.2).

Um die Unterhaltskosten an einer bestehenden Liegenschaft dennoch von den Steuern ab-ziehen zu können, blieb den Eigentümern einer Liegenschaft bisher nur die Möglichkeit, entweder vorgängig mit den Steuerbehörden eine entsprechende Vereinbarung zu treffen (sog. Steuerruling) oder die Arbeiten auf mehrere Jahre zu verteilen, um so die Kosten auf mehrere Steuerperioden aufteilen zu können.

Praxisänderung des Bundesgerichts verhilft zum Steuervorteil

Im Leiturteil 9C_677/2021 vom 23. Februar 2023 (bestätigt im Urteil 9C_724/2023 vom 29. März 2023 im Zusammenhang mit der Sanierung einer Alphütte) beurteilt das Bundesgericht die Rechtslage neu und hebt die langjährige Praxis des «wirtschaftlichen Neubaus» auf.

Den Steuerbehörden ist es ab sofort nicht mehr gestattet, eine wirtschaftliche Gesamtbetrachtung vorzunehmen und damit die Kosten für umfassende Arbeiten wie bei einem Umbau, einer Totalsanierung oder einer Renovation an einer Liegenschaft gesamthaft als wertvermehrende Anlagekosten zu qualifizieren. Das Bundesgericht anerkennt im zitierten Entscheid, dass eine wirtschaftliche Gesamtbetrachtung und die daraus resultierende komplette Verweigerung, tatsächlich werterhaltende Kosten vom steuerbaren Einkommen abziehen zu können, nicht gesetzeskonform sei. Entsprechend sind die Steuerbehörden künftig dazu verpflichtet, die einzelnen Arbeiten steuerlich nach ihrem objektiv-technischen Charakter zu qualifizieren.

Liegenschaftseigentümern verhilft der neue Bundesgerichtsentscheid folglich dazu, einzelne werterhaltende Unterhaltskosten trotz umfassenden Arbeiten an ihrer Liegenschaft von ihrem steuerbaren Einkommen abziehen zu können. Damit die Steuerbehörde Unterhaltskosten als werterhaltend qualifiziert, hat der Liegenschaftseigentümer aber auch im Rahmen einer Einzelbetrachtung der Kosten weiterhin die notwendigen Belege einzureichen und damit den Nachweis für eine entsprechende Qualifikation zu erbringen.

Die Praxisänderung gilt ab sofort und ist auf alle noch nicht definitiv veranlagten Fälle anwendbar. Steuerentscheide, die nicht der neuen Rechtsprechung entsprechen, können angefochten werden.


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